Skandale sind en vogue, grosse sowieso. Nehmen wir den VW-Abgasskandal als Beispiel: Er füllte über Wochen die Titelseiten nicht nur der deutschen Zeitungen und bot Gelegenheit für abendfüllende Diskussionssendungen auf allen Kanälen. Und er ist noch lange nicht ausgestanden: Weiterhin halten neue Erkenntnisse, Vermutungen und Spekulationen das Feuer am Brennen. Zweifelsohne ein Fall mit weitreichenden Konsequenzen. Nicht nur ist die Reputation eines Unternehmens, ja sogar einer ganzen Nation sozusagen «zerbeult». Es stehen auch Tausende Arbeitsplätze auf dem Spiel – und nicht zuletzt geht es um unvorstellbar viel Geld. Am Ende werden vielleicht sogar existenzielle Fragen aufgeworfen. Verständlich also, dass ein solches Thema in aller notwendigen Tiefe (wie auch flacher) abgehandelt wird. So weit, so gut, wird man sagen: Ein Konzern wie VW ist ja auf Krisen vorbereitet und es gilt: grosses Unternehmen – grosse Krise.
Haben kleine Unternehmen dann auch nur kleine Krisen? Mitnichten. Heute kommt auch ein ganz kleines Unternehmen rasend schnell auf die Titelseite einer grossen Zeitung, und eben nicht nur dann, wenn es ein grosses Problem hat. Immer mehr, und das ist der herausfordernde Kern der Entwicklung, entstehen heute aus Randnotizen grosse Geschichten. Doch woher kommt diese Entwicklung von der buchstäblichen Mücke zum Elefanten?
Zwei grosse Trends sind entscheidende Ursachen.
1. Wirtschaftlicher Druck auf die Medienhäuser
Die Medienlandschaft hat sich in den letzten 10, bald 20 Jahren fundamental transformiert. Die klassischen Massenmedien (Zeitungen, Zeitschriften, Radio und Fernsehen) hat die Konkurrenz der Onlinemedien buchstäblich überrollt. Onlinemedien erfreuen sich einerseits grosser Beliebtheit, weil die Kommunikation mit den Lesern praktisch in Echtzeit erfolgen kann, dank mobiler Kommunikation (Smartphones, Tablets usw.) immer mehr orts- und zeitunabhängig. Andererseits sind Onlinemedien meist gratis. Dies trägt zu einem Preisverfall für News bei und damit zu der neuen Vorstellung, dass sie eigentlich kostenlos seien. Damit erklärt sich übrigens auch der Erfolg der Gratiszeitung 20 Minuten.
Das veränderte Nutzungsverhalten und die Vorstellung der kostenlosen News haben zu einem Paradigmenwechsel im Konsum der Medien geführt: Immer weniger Leute lesen heute noch Zeitungen, geschweige denn wollen dafür zahlen. Die Leser- und Abonnentenzahlen bei den Zeitungen sind dramatisch gesunken, was auch weniger Werbeeinnahmen bedeutet. Trotz aller Konsolidierung der Medienlandschaft kämpfen die Medien heute mehr denn je um jeden Leser und am Ende des Tages gar ums wirtschaftliche Überleben.
2. Soziale Medien hebeln die klassische Rollenverteilung zwischen Sender und Empfänger aus
Wir alle sind im digitalen Zeitalter nicht mehr nur Empfänger einer Nachricht. Dank der sozialen Netzwerke Facebook, YouTube, Twitter, Instagram & Co. sind wir als Nutzer heute in der Lage, auch zum Sender von Inhalten oder eben News zu werden – und zwar durch die mobile Kommunikation so gut wie unabhängig von Ort und Zeit. Im Zeitalter, wo geteilt, «geliket» und kommentiert wird, sind wir damit alle potenzielle Absender und Multiplikatoren in der Verbreitung von News. Ein Beispiel ist die Explosion in einer kleinen Chemiefirma in Pratteln Mitte Februar 2016. Die ersten Infos und Bilder gab es nicht in den klassischen Medien, sondern von Augenzeugen, die das Ereignis fotografierten und auf Twitter verbreiteten – innerhalb von Minuten und wie ein Lauffeuer.
Das bedeutet, dass die Hoheit bei der Verbreitung von News nicht mehr bei den traditionellen Massenmedien liegt, sondern eben bei jedem von uns. Nicht selten entsteht ein Skandal heute in den sozialen Medien. So verbreiten sich auch lokale und kleine Themen im Netz rasant schnell und können rasant zu einem grossen Thema werden. Umgangssprachlich sprechen wir dann von einem «Shitstorm». Und ist ein Shitstorm erst gross genug, erzeugt er die nötige Relevanz dafür, auch in die klassischen Massenmedien überzuschwappen. Damit ist nicht mehr so sehr die Brisanz eines Themas für seine Verbreitung relevant, sondern plötzlich vorwiegend die Anzahl der Interessierten.
In der Kombination haben diese beiden Entwicklungen eine erhebliche Sprengkraft. Auf der einen Seite haben wir die klassischen Medien, die aufgrund des wirtschaftlichen Drucks (Weniger Leser = weniger Abos. Weniger Leser und Abos = weniger Werbeeinnahmen) mehr denn je auf der Suche nach dem Skandal sind: Eine Skandalschlagzeile verkauft sich immer besser als die Schönwetterüberschrift. Auf der anderen Seite bieten die sozialen Medien heute jedem die Möglichkeit, jederzeit einen (vermeintlichen) Skandal ins Rollen zu bringen. So werden heute schneller denn je aus Mücken Elefanten gemacht.
Überträgt man diese Entwicklung nun auf mittelständische Unternehmen, so zeigt sich ein völlig neues Krisenpotenzial. Ein Restaurant mit einem Salmonellenfall war früher im dümmsten Fall ein regionales Thema für eine gewisse Zeit. Heute schafft es ein solcher Fall deutlich schneller in die überregionalen oder nationalen Schlagzeilen. Und das oft mit den sozialen Medien als Brandbeschleuniger, wenn etwa Restaurantbesucher noch Fotos vom Essen, ausgeschmückte Geschichten oder dergleichen in Umlauf bringen. Ein anderes Beispiel: Ein Mitarbeiter beschwert sich in den sozialen Netzwerken über die Art und Weise seiner Entlassung – ein tägliches Einzelschicksal mit gar keiner Relevanz für die breite Öffentlichkeit. Durch die Verbreitung im Netz entsteht aber eine Welle der Solidarisierung und eine kollektive Empörung über das Verhalten des Unternehmens. Und plötzlich steht die Firma oder gar der Chef persönlich auf der Anklagebank der Öffentlichkeit. Von dort aus schwappt die Empörung in die klassischen Medien – voilà, ein neuer Skandal ist geboren, völlig ungeachtet irgendeiner «echten» Relevanz für die Öffentlichkeit. Es reicht alleine die Macht der grossen Anzahl an Empörten. Man wird nun entgegnen können, dass zugleich auch die Halbwertszeit solcher vermeintlicher Skandale erheblich abgenommen hat. Das stimmt wohl, das Problem ist nur, das Internet vergisst nie. Skandale finden sich noch Jahre später im Netz. Und deshalb sind auch «kommunikative Eintagsfliegen» nicht ungefährlich.
Wichtiger denn je ist es also auch für KMU, sich wenigstens rudimentär mit potenziellen Risiken und Krisen auseinanderzusetzen. Am besten beginnt man mit der Frage, auf welche Risiken ein Unternehmen realistischerweise stossen kann.